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Ich unter meinen Masken


© Quarterl1fe

Ich bin noch hier. Zu gerne würde ich heute sagen, ich hätte mein Leben im Griff, aber das kann ich leider nicht. Irgendwie habe ich mich immer anders gefühlt, irgendwie falsch, kaputt und missverstanden. Wie ein Fremdkörper, der versucht, sich in eine vorbestimmte Form zu zwängen, die nicht passt. Ich neige dazu, meine Leidenschaften, Ambitionen und sozialen Fähigkeiten mit denen anderer zu vergleichen und verurteile mich dann dafür anders zu sein. Bewundernd beobachte ich, wie sich Menschen zu sozialen Gefügen formen, während ich mich instinktiv zurückziehe. Mir scheint es so, als ob alle anderen in ihrem Leben vorankommen, nur ich bewege mich auf der Stelle. Freude, die viele Menschen für Aktivitäten oder Ereignisse empfinden, kann ich meist nicht teilen. Es ist nicht so, dass ich nicht möchte, dass andere Menschen glücklich sind; ganz im Gegenteil, ich wünsche ihnen nur das Beste. Aber ich schaue ihnen dabei von außen zu und fühle mich allein und einsam. Wenn ich in die Gesichter anderer blicke, ihre Mimik und Gestik interpretiere und versuche, ihre Emotionen zu verstehen, stoße ich an meine Grenzen. Es ist, als würde ich versuchen, einen geheimen Code zu entschlüsseln, der sich ständig verändert. Daher ist das gegenseitige Verständnis für das Verhalten, die Gefühle und die Wahrnehmung zwischen mir und anderen Menschen beschränkt. Es kommt zu Missverständnissen und Konflikten und das ist sehr herausfordernd.


Ich habe mir nie ausgesucht so zu sein und hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich mich wohl kaum für dieses Leben entschieden. Warum kann ich nicht sein, wie die anderen? Ich habe das Gefühl, mein Gehirn ist wie ein Wollknäuel, das nicht entwirrt werden kann und sich beim Versuch es auseinander zu dröseln weiter verknotet.


Ich wirke aber nicht anders. Man sieht mir nichts an. Ich bin kein Stereotyp. Ich entspreche nicht dem Bild, das in der Öffentlichkeit von Menschen wie mir vorherrscht oder über audiovisuelle Medien transportiert wird. Trotzdem möchte ich mit meinen Bedürfnissen ernstgenommen werden und mich nicht ständig dafür rechtfertigen müssen. Meine Erfahrungen in sozialen Situationen führen zu einer immer größeren Angst: Angst abgelehnt zu werden, Angst missverstanden zu werden, Angst negativ aufzufallen, Angst andere zu enttäuschen, Angst ausgelacht zu werden, Angst allein zu bleiben, Angst ausgenutzt zu werden, Angst nie glücklich zu werden, Angst alles falsch zu machen, Angst andere zu verletzen, Angst nicht ernstgenommen zu werden und Angst mein Leben nie in den Griff zu bekommen.


Ich bin jetzt 25 Jahre alt. Mein ganzes Leben lang beschäftige ich mich damit, mein wahres Ich zu verbergen und so zu sein, wie mich andere haben wollen oder es von mir erwarten. Das kostet viel Kraft und führt dazu, dass ich eigentlich kaum weiß, wer ich bin. Auch wenn sich mein maskiertes Ich in sozialen Situationen bewährt hat und beeindruckend sein kann, ist am Ende des Tages keine Energie mehr für mein wahres authentisches Ich vorhanden. Bin ich die Summe meiner Maskeraden, die ich situationsabhängig zum Besten gebe? Oder ist darunter noch etwas, das sich <Ich> nennt? Und ist dieses Ich liebenswert und möchte ich das zeigen? Ich möchte doch nur gemocht werden und nicht auffallen, einfach ein Teil davon sein. Aber mögen mich anderen Menschen nur, wenn ich mich verstelle? Es handelt sich um eine Wahl zwischen Ausgrenzung und Selbstentfremdung. Aber ich kann die Maske nicht absetzen. Sie ist fest mit mir verbunden. Kann ich anderen Menschen nah sein, wenn sie nur eine Maske von mir zu Gesicht bekommen? Was passiert, wenn eines Tages alles auffliegt und zutage kommt, was für ein merkwürdiger und anstrengender Mensch ich bin? Vielleicht verstelle ich mich auch nur, weil ich mich selbst nicht leiden und meine Andersartigkeit nicht ertragen kann. Der Schutz, den mir die Maskerade bietet und mir das Überleben sichert, ist gleichzeitig mein Verderben und bringt mich um.


Ich fühle mich, als würde ich in einer Kiste sitzend darauf warten, dass sie sich öffnet und sich mir die Welt da draußen intuitiv erschließt. Gleichzeitig bin ich mir nicht sicher, ob nicht ich die Kiste verschlossen habe und ich sie auf dem Dachboden unter alten VHS-Kassetten und künstlichen Sonnenblumen verstauben ließ. Bin ich gefangen in mir selbst? Was wenn ich mir nur einbilde anders zu sein? Liegt es vielleicht einfach nur an mir? Bin ich wirklich so oder ist das alles nur in meinem Kopf? Die verinnerlichte Selbstkritik und Selbstzweifel bewirken, dass ich mir und anderen beweisen möchte, gut genug zu sein, ohne dass ich selbst davon überzeugt bin. Ich weiß, ich sollte mich nicht mit anderen vergleichen, sondern versuchen die beste Version von mir selbst zu sein, aber das gelingt mir nicht.


Häufig werden Menschen, die bestimmte Normen nicht erfüllen, in einer Welt, die voller Unvorhersehbarkeit, Durcheinander, sozialen, klimatischen und politischen Herausforderungen ist, übersehen oder diskriminiert. Ich möchte glücklich sein, meinen Platz hier in der Welt finden und etwas leisten können. Dieses Gefühl haben im Hier und Jetzt zu leben und alle Sorgen und Ängste zu vergessen. Ich möchte Leben, Lieben, Lachen, Tanzen und glauben, dass ich alles schaffen kann.


Mein Leben ist ungeordnet, komplex, unvorhersehbar, flüchtig und ungewiss. Ich sehne mich nach Beständigkeit, aber es verändert sich stetig im rauschenden Fluss der Vergänglichkeit, dessen Strömung mich mit sich reißt. Mir gelingt es nicht, Struktur in dieses Tohuwabohu zu bekommen und somit der beherrschenden Bewegung zu entkommen. Unspektakuläre Alltagssituationen können für mich sehr belastend sein, beispielsweise durch eine große Menge an Eindrücken, Informationen und Sinneswahrnehmungen. Schnell sind mir Dinge zu laut, zu hell, zu warm oder riechen zu kräftig. Ich empfinde Schmerzen aber auch Emotionen sehr intensiv. Wenn ich von Emotionen anderer Menschen überflutet werde, ist es schwierig für mich ihnen beizustehen, ohne in ihren Gefühlen zu ertrinken.


Ich bin ständig im Dialog mit mir selbst. Meist ist es aber eher ein Konflikt zwischen mehreren Positionen. Gedränge im Kopf. Durcheinander. Wenn mir das alles zu viel wird, verschwinde ich in meinen Gedanken und träume mich weit weg von hier oder ich drehe die Musik so laut auf, dass ich den Beat spüren kann. Dann kann ich meine Gedanken nicht mehr hören und abschalten. Es gelingt mir oft nicht, meine Gedanken, mein Verhalten und meine Gefühle in Einklang zu bringen und es beginnt ein innerer Kampf. Manchmal endet er in einer Niederlage und die Wut nimmt mich gefangen. Dann verliere ich die Kontrolle und den Bezug zu der Realität. Ich sehe aus einem dichten Käfig nach draußen, abgeschirmt und weit weg von mir selbst. Aber ich schaffe es nicht heraus. Die Gitterstäbe drücken mich in das Käfiginnere zurück. Ich möchte dagegen ankommen, aber es gelingt mir nicht. Von außen sehe ich mir beim Misslingen der Flucht zu. Frust und Erschöpfung machen sich breit.


Meine größte Herausforderung ist es mich so zu akzeptieren, wie ich bin und dabei nicht zu streng mit mir selbst zu sein. Dabei bin ich erschöpft. Warum bin ich so? Warum existiere ich? Wofür das ganze? Ich möchte einfach nicht mehr. Nicht mehr dieses Leben führen. Nicht mehr sein. So sein. Alles erscheint sinnlos. Es soll aufhören. Alles soll aufhören, aber noch bin ich hier. Sollte ich es irgendwann nicht mehr schaffen, habe ich es wenigstens versucht. In der Dunkelheit unserer Existenz erscheint der Gedanke an Erlösung wie ein verlockendes Versprechen, doch die Folgen für mein Umfeld halten mich davon ab.


Lange erschien mir meine Andersartigkeit wie ein Makel, der mich zu einem mangelhaften Menschen macht. Mittlerweile sehe ich meine Besonderheiten als Bereicherung und Möglichkeit. Ich muss nicht in Normen passen oder vorgefertigte Wege gehen. Ich kann ich selbst sein. Meine Welt gleicht einem Kaleidoskop aus Empfindungen, Eindrücken und Erlebnissen, das sich dauerhaft dreht und neue faszinierende Muster offenbart. Es ist wie ein einzigartiges Kunstwerk, das durch die unterschiedlichen Farben und Klänge lebendig wird. Die kleinen Details, die von anderen möglicherweise übersehen werden, strahlen für mich in einer überwältigenden Schönheit. Ich blühe auf, wenn ich in die Tiefen meiner Interessen eintauchen kann und mich darin verliere. Dann spüre ich ein Kribbeln im Körper, das andere vielleicht als Glück oder Freude bezeichnen würden.


Ich bin keine Frau. Ich bin kein Mann. Mir scheint, als existiere ich in einem Zwischenreich, zu dem nur wenige Menschen Zugang haben. Es ist frustrierend nicht verstanden bzw. nicht akzeptiert zu werden. Aber indem ich mich selbst annehme und liebe, kann ich auch dazu beitragen, dass andere Menschen ihre eigene Einzigartigkeit schätzen und anerkennen. Das ist nun mal, wer ich bin. Ich kann verschiedene Rollen ausfüllen und mich frei ausdrücken. Das ist Teil meiner Persönlichkeit und Identität. Ich werde meinen Weg gehen und anderen Menschen Mut machen, das Gleiche zu tun.


Der Gewinn an neuer Selbsterkenntnis und zusätzlichem Selbstbewusstsein (auch durch neurodivergente Diagnosen) führt zu mehr Kontrolle über mein Verhalten, meine Gefühle und mein Leben. Heute verstehe ich mich und meine Vergangenheit immer besser. Ich lerne Menschen kennen, die so sind wie ich. Manche leben. Manche lieben. Manche lachen. Manche tanzen. Manche glauben, dass sie alles schaffen können. Und manche sind nicht mehr hier. Aber ich bin nicht allein. Wir sind nicht allein. Ermutigen wir uns, unser wahres Ich, unsere Bedürfnisse, Eigenschaften und Fähigkeiten zu akzeptieren. Versuchen wir in eine hoffnungsvolle Zukunft zu blicken und das Leben in seiner ganzen Pracht zu feiern. Wir haben uns das zwar nicht ausgesucht, aber wir können es wenigstens versuchen. Wenn wir offen für Vielfalt, Diversität und unterschiedliche Perspektiven sind, können wir voneinander lernen und gemeinsam wachsen. Verstecken wir uns nicht hinter einer Maske. Wir sind genau richtig so.


Unser Leben ist wie eine Reise, auf der wir lernen, uns selbst zu verstehen und unser authentisches Ich zu leben. Wir meistern Herausforderungen, die uns zunächst unlösbar scheinen und entdecken verschollene Schätze. Wir sind Teil der wunderbaren Vielfalt des Lebens. So sind es vielleicht gerade andere Wahrnehmungen, Blickrichtungen und Arten zu denken, die bei globalen Herausforderungen, für die Menschheit entscheidende Vorteile bringen können, z.B. durch kreative Ideen, Innovationen oder einfach durch das Schaffen eines inklusiven Umfelds. Die Sehnsucht nach Frieden, Liebe, Ordnung und Harmonie kann uns dabei antreiben.


Was hält die Zukunft für mich bereit? Was erwartet mich? Welche Wege werde ich im Labyrinth des Lebens wählen? Welche entpuppen sich als Sackgassen? Ich kann die Zukunft nicht ordnen, kontrollieren oder vorhersehen, aber ich kann versuchen meine Ziele zu erreichen und meine Träume zu verwirklichen. Ich träume von einer Welt, in der wir alle unser authentisches Selbst sein können, ohne Angst vor Diskriminierung oder Vorurteilen zu haben. Ich möchte die Welt zum Positiven verändern. Etwas beitragen, damit jungen Menschen, denen es so geht wie mir, nicht aufgeben. Denn vielleicht kann das Leben dann schön sein.


Zu gerne würde ich jetzt sagen, ich hätte mein Leben im Griff, aber das kann ich leider nicht. Noch nicht. Aber ich bin noch hier und ich bleibe noch ein bisschen.


 

Ise Pinka, 25, studiert Kulturwissenschaften und Psychologie. Ise interessieren vor allem gesellschaftspolitische und popkulturelle Themen, besonders Gender Theorien, Filmwissenschaft, Humortheorie und Neurodiversität. Ise möchte Kunst und Kultur für alle zugänglich machen.

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