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Ich muss mal


© Quarterl1fe

Wenn meine Zwanziger ein kleines Zimmerchen wären, so wäre dies komplett überfüllt. Überall stünden viele bunte Boxen, die gar nicht zueinander passen. Ich visualisiere das ganz gerne, vielleicht hilft mir das irgendwie.


Manche dieser Boxen kommen mir riesig vor, andere sind etwas kleiner, aber sie stehen hier in allen Farben und Formen und sie sind voller Gerümpel. Ich konnte sie bisher noch nicht ordnen, auch wenn ich mir das immer wieder vornehme. Die konstante Reizüberflutung in diesem Zimmer ist allgegenwärtig und ich habe nicht den Platz, um mich mit diesen ganzen Gegenständen zu beschäftigen. Ich muss die grenzenlosen Möglichkeiten der Gen Z nutzen und doch so schnell wie möglich anfangen zu arbeiten, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden. Denn was gibt es Schlimmeres als Dauerstudenten?


Neben mir steht eine weiße Kiste, sie verunsichert mich fast am meisten. Darin liegen unter anderem eine Rubbelweltkarte und mein Reisetagebuch, die mich unter Druck setzen. Schließlich muss ich ins Erasmus gehen oder wenigstens ein Auslandspraktikum absolvieren, eben weil ich es kann und die EU mir das sogar netterweise sponsert. Ob ich das möchte, scheint gar nicht wirklich zur Frage zu stehen. Alles, was ich gerne mache, kann ich genauso gut einfach hier tun, in meinem kleinen Studentenzimmer. Wenn es nur nicht so vollgestellt wäre.


Alle sprechen immer von verpassten Chancen, ungenutzten Möglichkeiten… Ich kann diese Worte nicht mehr hören. Mein kleines Zimmer wird immer enger, hier ist kein Platz mehr für das, was ich möchte, kein Platz zum Nachdenken, für Stille und Inspiration. Inspiriert werden wir in meiner Generation heute durch die sozialen Medien.


Die Wände meines chaotischen Zimmers sind dünn, alle hören, was ich mache oder auch nicht mache, welche Chancen ich ergreife, welche Möglichkeiten ich verpasse. Doch nicht nur meine Zimmernachbarn haben ihre Erwartungen an mich. Auch virtuell lauern diese Erwartungen. Ich brauche nicht einmal eine Box dafür, den sozialen Medien kann ich nicht entfliehen, sie irgendwo „hinpacken“. Ich muss ständig zeigen, wie es mir geht, was ich mache. Reiseziele, scheinbar interessante Treffen mit Freunden sowie das hässliche Mittagessen werden auf Instagram oder Twitter festgehalten. Paul Watzlawick hat schon festgestellt, dass man nicht nicht kommunizieren kann. Wenn ich also meine Follower nicht regelmäßig auf dem Laufenden halte, muss das also heißen, dass mein Leben sehr langweilig ist, oder?


Ich habe nichts von der Welt gesehen, habe kaum Erfahrungen machen dürfen, die meine Vorstellungskraft anregen und jetzt soll ich wissen, womit ich den Rest meines Lebens verbringen möchte? Ich kann mir zwar irgendwie vorstellen, was ein Anwalt, eine Ärztin oder eine Schauspielerin tagtäglich macht, aber wie unfassbar weit muss meine Vorstellung von der Realität sein, wenn ich nicht aus diesem vollgestellten Zimmer rauskomme. Diese große hellblaue Box mit dem Aufkleber „Schauspielerei“ könnte ich öffnen, vielleicht ein Praktikum im Theater machen? Oder öffne ich doch diese kleinere daneben? Ich kann die Schrift hier kaum mehr lesen, das war wohl eine alte Idee von mir, nur eine Phase. Ist die dann jetzt überhaupt noch relevant? Kann die Box weg?


Doch meine Aufmerksamkeitsspanne ist mittlerweile so gering, dass mir direkt ein anderer Stapel Gerümpel ins Auge sticht. In diesem Fall ist es ein Stapel von Flyern für Studentenpartys auf der großen weißen Box. Sicher, ich muss jede davon mitnehmen, das erwarten sogar nicht nur meine „Peers“, sondern auch die Gesellschaft an sich, denn introvertierten Menschen wird längst eine gewisse Abnormalität zugesprochen. Klar, ich weiß schon, extrovertiert sein ist sexy, also muss ich eben auch extrovertiert sein!


Mein Blick fällt auf eine dunkelblaue Box. Die „Feminismus-Box“, die habe ich vorhin noch gesucht, sie ist ein wichtiger Teil von mir. Schließlich muss ich meine Möglichkeiten nutzen, weil meine Mutter und Großmutter es eben nicht konnten. Ich muss frei sein, darf mich nicht zu sehr beeinflussen lassen, muss meinen eigenen Weg finden. Auf der anderen Seite muss ich einen Freund haben, zumindest werde ich immer wieder danach gefragt.


Daran, dass die biologische Uhr tickt, werde ich gelegentlich auch erinnert. Die winzige, gelbe „Baby-Box“. Dabei bin ich 21 – und wer weiß, ob ich das überhaupt will? Aber was ich will, ist natürlich zweitrangig, denn ich darf nichts verpassen, muss alles mitnehmen. FOMO wird das genannt, das ist nichts Neues, ich weiß schon. Manche Gegenstände in diesem überfüllten Zimmer würde ich jedoch einfach gerne liegen lassen. Kann mir mal jemand helfen, hier etwas Ordnung zu schaffen? Schon wieder werde ich abgelenkt, dieses Mal springt mir eine Broschüre für die Kunsthalle ins Auge. Ach stimmt ja, da könnte ich auch mal wieder hin. Schließlich bin ich Studentin und muss intellektuell oder sowas sein. Ich liebe Kunst und Museen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal in einer Kunstgalerie war, einfach, weil ich in eine Kunstgalerie gehen wollte.


Ich denke immer, jeder kann diese ganzen Boxen und Gegenstände in meinem Zimmer sehen, denn die Vorhänge vor meinen Fenstern sind fast transparent. Können sie mich auch sehen, wie ich hier inmitten von all dem stehe und nicht weiß, wohin mit mir? Dass ich mit der schieren Anzahl an Wahlmöglichkeiten völlig überfordert bin?


Wie soll ich in diesem Zimmer überhaupt irgendetwas finden? Ich schaffe es ja nicht mal die Tür zu erreichen, weil mir dort so viele Dinge den Weg versperren… Selbst wenn ich versuche, das Zimmer zu verlassen, um eine dieser Möglichkeiten zu nutzen, so komme ich nicht dazu. Da sind so viele Ängste, die sich in Form von Hindernissen manifestieren und mir den Weg zur Ausführung versperren. Gibt es hier vielleicht irgendetwas, womit ich sie aus dem Weg schaffen kann? Wenn ein Feuer käme, was einfach alles niederbrennt, würde mir das vielleicht helfen?


Ich streife weiter im Zimmer umher, auch wenn das kaum möglich ist und ich ständig auf etwas trete. Bewusst ignoriere ich den Kalender, welcher mir stetig das unbarmherzige Verstreichen der Zeit aufzeigt.


Mir kommt ein Gedanke auf. Habe ich die Freiheit meine Möglichkeiten nicht zu nutzen? Keinen Weg zu bestreiten? Bin ich frei genug, um zu sagen, dass mir die Freiheit Angst macht? Kann es zu viel Freiheit geben? Und wenn ich nicht frei sein will? Wieso bedeutet diese Freiheit denn auf einmal, dass ich alles machen und überall dabei sein muss? Es gibt doch schon so vieles, das ich muss. Ich muss mich an Gesetze und gewisse gesellschaftliche Normen halten, ich muss essen, schlafen, sterben…


Pinkeln. Mir fällt auf, dass ich mal muss. Ich gehe ganz vorsichtig, versuche nichts kaputt zu machen. Irgendwie schaffe ich es, über und auf die Boxen zu steigen und die Tür zu öffnen. Ganz behutsam schleiche ich mich aus dem Zimmer. Ein Schritt nach dem anderen, endlich hier raus.


 

© Paulina Gluth

Paulina Gluth, 21, studiert Psychologie in München. Sie schreibt vor allem, um besser zu verstehen, was andere Menschen bewegt. Neuerdings jedoch auch, um mit dem unaufhaltsamen Verstreichen der Zeit umzugehen.



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