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Golden Twenties





Alle drei Varianten haben exakt den gleichen Wert und sagen rein gar nichts über dich aus. Sie sind nur eine Form im Außen.”


Meine Wirbelsäule knackt, die Yogalehrerin auf meinem Tablet hört es nicht. Unbeirrt führt sie drei Varianten einer Übung vor - eine für Fortgeschrittene, eine für Anfänger, eine für mich. Ich stoße meinen Ellbogen an der Ecke meines Schreibtischs und rutsche fluchend wie eine Robbe samt Matte näher zum Bett. Ich wünschte, das ganze Leben hätte drei Schwierigkeitsgrade und ich Entscheidungsfreiheit. Im nächsten Moment wird mir schwarz vor Augen. Als ich wieder sehe, schiebt sich eine Push-Meldung an den Bildschirmrand.


Wir haben pornografisches Material von Ihnen. Wenn Sie nicht möchten, dass die erotischen Videos an die Öffentlichkeit gelangen, überweisen Sie 2.000 Euro innerhalb der nächsten zwei Werktage auf folgendes Konto.”


Zwei Werktage also. Immerhin respektieren die Erpresser, dass ich Wochenende habe. Von meinem Arbeitgeber kann ich das nicht behaupten. Kaum ist die Phishing-Mail gelöscht, schreibt mir mein Vorgesetzter eine What’sApp-Nachricht. Der Schlagzeuger der Foo Fighters ist gestorben. Ich solle asap etwas posten, alle machen etwas dazu. Social Media schläft nicht. Ich allerdings schon – lieber zu viel als zu wenig. Und weil Gen Z glücklicherweise das Quiet Quitting erfunden hat, priorisiere ich meine Entspannung und ignoriere die Nachricht des Redakteurs a.k.a. meines Chefs.


Quiet Quitting. Heißt für alle, deren Glas halb leer ist: Ich leiste nur, was ich leisten muss. Für alle, deren Glas halb voll ist: Ich leiste alles, wofür ich bezahlt werde. Überstunden adé, as soon as possible sowieso. Aus Sicht der Arbeitgeber das Ende des Kapitalismus, aus Sicht der Arbeitnehmer eine Errungenschaft der Gen Z, dabei dringen die Post-Millenials gerade erst von den TikTok-Feeds auf den Arbeitsmarkt. Dass ausgerechnet sie das Quiet Quitting erfunden haben, erklärt auch, warum Jahrzehnte alte Forderungen von Gewerkschaften und Betriebsräten einen Anglizismus und einen Influencer brauchten, um Schlagzeilen zu machen. Auf TikTok mobilisiert es sich wohl gut.


Ich merke erst, dass ich Entspannung dringend nötig habe, als mein Gehirn schon endgültig vernebelt ist. Kaum habe ich die Instagramcaption unter ein Foto der Foo Fighters getippt, versperrt mir der Brain Fog die Sicht aufs Wesentliche. Ich muss auf andere Gedanken kommen. Weil ich schon einmal auf Instagram bin, bleibe ich dort und schaue mir abwechselnd Influencer auf Madeira, Einrichtungen von Tiny Houses und kichernde Kleinkinder an, die dem Upload ihrer Videos ins World Wide Web nicht zugestimmt haben. Mein prämenstruelles Syndrom kickt, die Hormone sprudeln über.


Brain Fog. Ein Zustand mentaler Desorientierung. Hält länger an als ein Brain Freeze, der zwar vom Atmen abhält, aber auch schnell vorbeigeht. Nicht zu verwechseln mit Brainfuck, einer eher minimalistischen Programmiersprache.

Außerdem: Hormone. Botenstoffe, sagt das Internet zwecks Definition, und irgendetwas mit Blut. Beim Anblick von Blut wird mir jedes Mal schlecht, aber ich immerhin nicht ohnmächtig. Einmal sagte ich zu einer Freundin, ich sei auf Hormonen, da fragte sie, ob ich meinte, ich menstruiere. Nein, schlimmer, sagte ich damals, ich sei verliebt.


Jedenfalls brauche ich genau jetzt Entspannung, weil ich später zum Feiern verabredet bin. Als ich die Zusage gegeben habe, habe ich das krampfende Bauchgefühl gekonnt ignoriert. Das war in einem guten Moment, in dem ich noch nicht wissen konnte, dass mein Mitbewohner über das Wochenende verreisen und einem Bad mit Lush-Bombe und Yankee Candle nichts im Wege stehen würde. Seit diesem Moment ist es mit meiner Begeisterung für den Feierplan rapide bergab gegangen, was ich teils gleichgültig hinnehme und teils anhand meines Alters erkläre. Mit 26 kann man nur noch hoffen, dass ein Mittagsschlaf plötzlich abflachende Motivation wiederherstellen kann.


Alter. Erstens: Anrede. Beispiel: “Was geht, Alter?” Abgeleitet von: “Alter Schwede!” Dabei umgangssprachlich, salopp, Jugendsprache beziehungsweise in der Wurzel eigentlich straight out of Dreißigjähriger Krieg, als der Kurfürst seine Soldaten von alten Schweden ausbilden ließ. Zweites: Zahl, die sich mit jedem Geburtstag steigert. Assoziierte Traditionen zum 25. Geburtstag: A) Großtanten witzeln, dass nun ein Viertel Leben geschafft ist, dabei lebten 2021 nur gut 23 500 Menschen über 100 in Deutschland. B) Menschen verfallen in die Quarter Life Crisis. Drückt sich in der subjektiv empfundenen, aber objektiv oft nicht bestreitbaren Sinnlosigkeit des individuellen Daseins aus. Tritt ein Viertel Leben vor der Mid Life Crisis ein, jedenfalls bei zukünftigen Hundertjährigen.


Der Handywecker reißt mich zurück in die Realität. Ich wäge ab, ob ich wirklich meine Haare waschen muss. Während ich meinen fettigen Ansatz im Badezimmerspiegel beäuge, denke ich an mein 19-jähriges Ich, das vor einer Party gerne mal zwei Stunden im Bad und 30 Minuten vor dem Kleiderschrank verbracht hat. Damals, als noch jedes Wochenende verheißungsvoll war. Mittlerweile kommt mir das alles eher unheilvoll vor. Ich entscheide mich für gewaschene Haare und gegen aufwendiges Make-up. Wenn ich um zwei Uhr nach Hause komme, möchte ich mich nicht noch abschminken müssen. Sicherheitshalber trage ich auch meine Nachtcreme schon einmal auf.


Verheißungsvoll, Adjektiv. Bedeutung laut Duden: “zu großen Erwartungen, Hoffnungen berechtigend; vielversprechend”. Gegenteil: Unheilvoll, ebenso Adjektiv. Bedeutung laut Duden: “Unheil mit sich bringend”. Mögliches Unheil im konkreten Fall: Übergriffige Flirts, starke Kopfschmerzen, etwaige Blamagen. Und noch ein Wort: Schleierhaft, ein weiteres Adjektiv. Schleierhaft sind mir jegliche Erwartungen an Clubnächte.


Meine Freundinnen und ich gehen ins Reineke Fuchs, die Hochburg der um die 20-Jährigen, nur sind wir nicht mehr um die 20. Als der DJ Rihanna auflegt, kreische ich trotzdem, eine potenziell Minderjährige schaut mich erschrocken an. Für einen Moment befürchte ich, dass die Autor*innen der heutigen Phishing-Mail doch meine Nudes geleakt haben und ich gerade erkannt wurde. Dann besinne ich mich darauf, dass für die Gen Z Rihanna eben vintage ist. Außer dem Quiet Quitting habe ich den Post-Millenials nicht viel zu verdanken. Ich traue keiner Generation, die Hüfthosen zurückgebracht hat.


Generation. Nicht frei von Willkür geschehene Einteilung von Menschen entlang ihrer Geburtsjahre. Sorgt die Gen Z aktuell für Aufsehen, war es zuvor die Generation Y. Geboren in den frühen 80ern bis späten 90ern fragen sich die Millenials vor allem eins: Warum? Sonderlich freundlich ist es natürlich nicht, die Antwortfindung der nächsten Generation zu überlassen. Sonderlich freundlich war es aber auch nicht, dass die Boomer eine sich weiterhin im Untergang befindende Erde vererbt haben, von der 40-Stunden-Woche und der heterosexuellen Kleinfamilie ganz zu schweigen.


Auf der Tanzfläche ist es mir zu voll, zu warm, zu laut. Eine Freundin schreit, dass sie geht. Sie will ihren Mann, der das gemeinsame Kind “babysittet”, nicht länger alleine lassen. Eine andere feilscht um den Preis von pinken Tabletten mit eingraviertem Smiley. Ich fliehe an die Bar, bestelle einen Negroni und bekomme einen Festivalflyer dazu. Weil ich zu jung bin, um mir ein Festival entgehen zu lassen, aber zu alt, um zu zelten, stecke ich den Flyer ordentlich gefaltet in meinen Brustbeutel, hole Ohropax heraus und forme die pinke Baumwollwatte zwischen den Fingern. Pax, pacis, femininum, Frieden.


Frieden. Komplex, dabei spannend: 1. Nicht ganz geklärt ist, ob “Frieden” einen Plural hat. Vielleicht weil Abstrakta keinen Plural benötigen, vielleicht weil es Frieden nur gibt, wenn überall Frieden herrscht. 2. Formt eine Reihe weiterer Worte, darunter Weltfrieden, Seelenfrieden, Burgfrieden, Hausfrieden, Hausfriedensbruch. Weltfriedensbruch? Kennt die Gen Z nur zu gut, ist inzwischen sogar bei den Millenials angekommen, die sich lange sicher fühlten. Und Seelenfriedensbruch? 3. Warum wir sagen, dass Frieden “herrscht”, und was Frieden noch mit Herrschaft zu tun hat, das ist ein anderes Thema.


Vor der Clubtür unterhalte ich mich mit einem rauchenden Mann, der denkt, er habe mit seinen schwarz lackierten Fingernägeln eigenhändig den Sexismus besiegt. Er habe mal ein halbes Gender-Zertifikat an der Uni Köln absolviert, Männer würden schließlich auch unter dem Patriarchat leiden. Ich beglückwünsche ihn zu seiner bahnbrechenden Erkenntnis. Als er mich fragt, ob ich später mit seiner Freundin und ihm schlafen möchte, wende ich mich ab. Ich sollte einen Pitch bei Vice einreichen - Titel: „Über Softboys und Fuckboys, warum sie alle gleich sind und was sie unterscheidet“. Darin erkläre ich, dass sich das verhält wie mit Quadraten und Vierecken. Alle Softboys sind Fuckboys, aber nicht alle Fuckboys sind Softboys. Wenn sie ihn nehmen, klappt es vielleicht auch mit der Freiberuflichkeit und niemand schreibt mir mehr am Wochenende.


Boy. Englisch, der Junge. Mögliche Konkretisierungen: Softboy, Fuckboy, Schoolboy, Paperboy, Houseboy, Beachboy, Playboy, Callboy, Cowboy, Tomboy. Boy laut Urban Dictionary: Dasselbe wie Girl, aber in einer missverstandenen Variation. He was a skaterboy, she said, see you later, boy. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.


Ich ziehe an meiner Zigarette, da drängt sich mir Hangxiety auf. Also breche ich auf in den West Imbiss, ein Paradies aus Ayran und Falafeldürüm. Letztens war ich in einer Nacht drei mal hier: einmal wegen Hunger, zweimal wegen dringender Gespräche, die nach einem ruhigen Ort verlangten. Das ist noch gar nicht lange her, dachte ich jedenfalls, bis ich vor einer verbarrikadierten Tür stehe. Laut den Bleistiftbuchstaben auf dem Collegeblockblatt hinter der Scheibe hat der Imbiss vor zwei Jahren geschlossen. Meine letzte Partynacht liegt wohl doch etwas länger zurück.


Als ich umdrehe, sprühen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei Männer Graffiti an die Wand:


I’m wasting my young years”


 

© Te Vrugt, Menke

Alina te Vrugt, 26, studiert den Master Theorien und Praktiken professionellen Schreibens an der Uni Köln. In ihren Texten gehen Quarterlife und Crisis Hand in Hand.

Marie Menke, 25, hat Politik- und Medienwissenschaft studiert. 2023 wurde sie mit dem OffSpring Award der Lit.Cologne ausgezeichnet, 2022 war sie Stipendiatin der Grazer Werkstatt Prosa.

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