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Anne K. Ramin

Camper




Martin war zu spät.

Ich wartete an der Straße, zwischen dem Schatten eines Laternenpfahls und dem gleißenden Hochsommerlicht, das die Stadt zum Glühen brachte. Nachdem ich Stunde um Stunde im dämmrigen Buchhaltungsbüro Excellisten ausgefüllt hatte, kam mir der Sommer hier draußen unwirklich vor, Teil eines Lebens, das nicht das meine war. Um diese Zeit spiegelte die Sonne so sehr, als hätte sie nie einen Winter gekannt, Reflektionen in Fensterscheiben, auf dem Lack der Autos, die auf der großen Querstraße aus der Stadt in Richtung Feierabend flohen, selbst die kleinen Blätter der Büsche am Straßenrand schienen silbriggrün das Licht zurückzuwerfen.

Ich sollte die Zeit nutzen und zeichnen, aber mein Block war ganz unten in meinem Rucksack, unter den Klamotten, die ich heute Morgen für den Ausflug zusammengesammelt hatte. Bei Feierabend hole ich dich ab, hatte Martin gesagt. Feierabend war für ihn ein dehnbarer Begriff.


Ich setzte mich auf die Bordsteinkante. Im Sommer war die Geräuschkulisse anders, kein Kindergeschrei von der Grundschule an der Ecke, nur das Rauschen des Verkehrs, an- und abschwellend, und ich stellte mir vor, es wäre Meeresrauschen.

Bisher kannte ich Martins Camper nur von der Fahrt zur Werkstatt, nachdem er mehrere Monate rostend am Straßenrand verbracht hatte. Es war ein Fiat, wie man ihn an jeder Ecke sah, zehn Jahre älter als ich, mit Lenkradschaltung, einer knarzenden Kupplung, die bei jedem Treten wie eine schreiende Katze klang, und den typischen braunen Blumen-Polstern, die mich an den Wohnwagen meiner Eltern in Kindheitstagen erinnerten.

Ich schwitzte, obwohl ich mich nicht bewegte, mein Shirt klebte an meinem Rücken. Die letzten Augusttage waren drückend-schwül, über der Stadt lag der typische Geruch von Abgasen, Gras und heißem Asphalt.

Warten war nicht gut für mich in letzter Zeit, eigentlich schon seit dem Abschluss nicht, und gerade in den letzten Wochen, seitdem ich die Bewerbung an die Kunsthochschule geschickt hatte. Nächstes Mal sollte Martin mich einfach anrufen, wenn er da war.

Gerade als ich doch meinen Block aus dem Rucksack kramen wollte, hörte ich das klappernde Dieseldröhnen des Campers und sah, wie Martin das weißgraue Ungetüm um die Straßenecke navigierte. Das Zischen, das der Camper beim Bremsen ausstieß, klang wie ein Seufzer der Erleichterung.


Ich kletterte auf den Beifahrersitz, bugsierte meinen Rucksack zwischen meine Beine in den Fußraum und zog die Tür zu, bevor ich mich zu Martin hinüberbeugte, um ihm einen Kuss zu geben. Er berührte kurz meine Wange und deutete auf das Headset an seinem Ohr. Das erklärte, warum er nicht auf meine Anrufe reagiert hatte.

Während er die Karre in Bewegung setzte, erklärte er seinem Kunden am Telefon irgendetwas zu einer neuen Software, die seine Firma seit einigen Wochen verwendete. Ich kurbelte das Fenster runter, lehnte mich zurück und checkte meine Mails. Keine Nachricht von der Kunsthochschule. Dafür eine Whatsapp von meiner Mutter mit einem Bild vom Geburtstagskuchen meiner Schwester. Das schlechte Gewissen hinterließ Gallegeschmack in meinem Mund, knabberte schon seit gestern beharrlich ein Loch in meine Magengegend. Warum ich nicht kommen konnte? Weil ich Luft zum Atmen brauchte. Weil mich die Blicke meiner Eltern noch immer an die Tage meiner ersten Studienwahl erinnerten, als ich Kunst wollte und sie etwas Vernünftiges und meine Meinung letztendlich egal war. Weil mir schlecht wurde von den Fragen, ob ohne Uni jetzt nicht alles besser war und ob ich mich denn gut eingefunden hatte in diesem Job, den ich am liebsten schon vor meinem Abschluss gekündigt hätte. Meiner Mutter hatte ich nur gesagt, dass ich lange arbeiten musste. Es gab ohnehin kein Argument, das angemessen war, um eine Familienfeier ausfallen zu lassen.


Schwerfällig rollte der Camper an den Ampeln los, mit seinem ganzen Gewicht drückte sich Martin gegen den Schaltknüppel, um in den ersten Gang zu schalten, den zweiten, dritten. Ich zog die Schuhe aus und die Füße auf den Sitz. Raus aus der Stadt, raus, egal wohin, bis die Ferne die Probleme von Zuhause nur noch halb so groß erscheinen ließ. Konnte man etwas vermissen, das man gar nicht kannte? Ich lauschte Martins warmer Bariton-Stimme beim Telefonieren, während wir auf der Autobahn langsam die Stadt hinter uns ließen. Der Fahrtwind zerrte an meinen Haaren, aber ich war zu sehr mit den Gedanken an meine Eltern und an die Einschreibefrist an der Uni beschäftigt, um mich dazu aufraffen, das Fenster hochzukurbeln.

„Sorry.“ Martin zupfte das Headset aus seinem Ohr und beförderte es aufs Armaturenbrett. Trotz der Wärme roch er wie frisch geduscht. „Wo wollen wir denn hin?“

„Ans Meer“, sagte ich. Martin warf einen Blick auf den Tacho, der tapfer um die 80 km/h schwankte.

„Wie wäre es für heute erstmal mit einem See?“

„Ich nehm‘ was ich kriegen kann.“

„Such mal was.“

Ich wischte die Nachrichten meiner Mutter beiseite und öffnete Maps. Eigentlich war es mir egal wo wir hinfuhren, solange es weit weg von allem anderen war. Ein LKW überholte uns, der Camper wackelte im Fahrtwind.

„Die Lenkung haben sie nicht gut hingekriegt.“ Wie zum Beweis wackelte Martin am Lenkrad. Der Camper klang, als wollte er jeden Moment seinen letzten Dieselatem aushauchen. Wäre es mein Fahrzeug, hätte ich es längst verkauft, aber nicht Martin. Martin behielt Dinge immer bis zum letzten Moment. „Lass mal Landstraße fahren, oder?“

„Gern.“

Ich navigierte uns von der Autobahn runter, durch brandenburgisch-gerade Wälder und kleine Dörfer mit alten Häusern, grauen Putzfassaden und ordentlichen Vorgärten. Durch die offenen Camper-Fenster wehte der Geruch von gemähtem Gras und Weiden, Grillgut und Holzkohle. Das Licht der Sonne spiegelte auf dem Asphalt.


„Wie war dein Tag?“, fragte Martin.

„Langweilig“, sagte ich, wie jeden Tag. Auf dem breiten Armaturenbrett lag ein kleiner Kompass, der so sehr vibrierte, dass man die Himmelsrichtung nicht mehr erkennen konnte. „Excel-Tabellen ausfüllen wie immer. Ich bin froh, dass wir jetzt unterwegs sind. Und bei dir?“

„Stressig“, sagte er, wie jeden Tag. „Was von der Uni gehört?“

„Leider nicht.“

Ich sagte nichts von der Unruhe, die mich immer wieder übermannte wie Muskelkrämpfe, sagte nichts von der Angst, die mich manchmal minutenlang lähmte, bis mich wieder die Nervosität packte und ich gar nicht wusste wohin mit mir vor Machtlosigkeit. Irgendwann hatte man Dinge so oft erzählt, dass sie nicht mehr ausgesprochen werden mussten.

Vielleicht war sie einfach schon zu lange da, diese Unruhe. Vielleicht wurde sowas irgendwann einfach Teil von einem, immer auf der Flucht und zugleich gefangen in Stillstand, immer am Rennen, ohne Voranzukommen. An Tagen wie diesen wünschte ich, ich hätte dutzende Bewerbungen rausgeschickt, dutzende Mappen erstellt, nicht nur die eine. Hier oder nirgends, hatte ich gedacht.


„Hier wird nicht gegrübelt.“ Martin zwickte mich liebevoll in den Arm, obwohl er genauso war, obwohl ich förmlich sehen konnte, wie er in Gedanken Arbeitsthemen durchging, die Aufgaben seiner Mitarbeiter, seine Termine, Optimierungsmöglichkeiten, Firmenziele. Martin liebte es, verantwortlich zu sein, so sehr, dass ihm fast egal war für was. „Willst du Musik? Die Box ist im Handschuhfach.“

Ich stellte die Bluetooth-Box aufs Armaturenbrett und machte die Rolling Stones an. Maps verkündete, dass wir in zwei Kilometern abbiegen müssten. Martin erzählte von einem Kollegen, der schon seit Wochen nicht erreichbar war und jetzt auch Termine im Büro schwänzte. Die Rolling Stones spielten You can’t always get what you want und die Sonne tauchte die Felder auf der rechten Seite der Straße in rotes Licht, obwohl sie noch weit vom Horizont entfernt war. Am liebsten hätte ich das Lied übersprungen, auch wenn ich den Song früher immer gemocht hatte. Seit zwanzig Minuten fuhren wir nur geradeaus, dieselbe Straße zwischen Pferdekoppeln und hohen Tannenwäldern hindurch, zwischen deren Bäumen sich bereits langsam nächtliche Schatten sammelten. Ich wünschte, ich könnte alles aus meinem Kopf löschen, die Bewerbung, den Geburtstag meiner Schwester, meine Mutter, die immer traurig war, weil ich so selten zu Besuch kam. Nur für ein Wochenende. Nur bis ich in die Stadt zurückkehrte.


„Wirklich hier?“, fragte Martin. Ich sah auf das Navi, dann auf die Straße. Ein Waldweg.

„Sieht so aus, ja.“

„Na dann.“

Martin zuckte mit den Schultern und lenkte den Camper auf den Waldweg. Der unebene Boden ließ den alten Wagen tanzen, Wurzeln knackten, Äste schlugen gegen den Alkoven und kratzten über den Lack. Ich presste die Zähne zusammen. Martin schaltete in den ersten Gang runter, der Camper schob sich stöhnend und ächzend über den Waldboden. Zwischen den Bäumen vor uns konnte ich Schilf erkennen. Der Stellplatz war kaum mehr als ein Fleck Erde ohne Bäume, dahinter führte ein kleiner Hang direkt ins Wasser des Sees. Martin setzte den Camper zurück und schaltete den Motor aus. Einen Moment hatte ich das Gefühl, immer noch das Vibrieren zu spüren, das Schnaufen des Campers zu hören.

„Perfekt.“ Martin küsste mich, bevor er die Tür aufdrückte. Ich liebte sein Grinsen. „Hier haben wir auf jeden Fall unsere Ruhe.“


Wir holten uns die Campingstühle ans Wasser und hörten der Stille zu. Krähen, Vögel, Insektensummen und Zirpen, irgendwo sang eine Nachtigall, der Geruch von See, von Algen und abgestandenem Wasser und Kiefern und warmer Erde ließ meinen Kopf schwirren. Martin spielte Candycrush auf seinem Handy. Ich kritzelte in meinem Block vor mich hin und träumte von einem Atelier und Ausstellungen mit meinen Bildern, von Kunst sehen und Kunst schaffen und einem Leben, in dem ich das tun konnte was ich liebte. Bis ich mich an die Realität erinnerte. An Excel-Listen und Bürojobs, an meine Eltern, an meine Mappe, die vielleicht doch nicht gut genug war, und was ich tun sollte, wenn von der Uni eine Absage kam. Dann starrte ich nur noch auf die spiegelnde Oberfläche des Sees und versuchte, meine Gedanken zu ertränken.

„Hey.“ Martin drückte mein Knie. „Grübeln kannst du auf der Arbeit wieder. Wir sind im Urlaub, richtig?“

Ich lächelte, weil ich wusste, dass er genauso wenig abschalten konnte wie ich.

„Richtig.“

Martin holte die Kühlbox aus dem Camper, die wir gestern gepackt hatten, und wir aßen kalte Pizza vom Vortag und redeten über Reisen und Musik und in diesem Moment war alles okay, zumindest irgendwie.


Der Camper starb am nächsten Tag, auf halber Strecke an die Ostsee.

Es begann mit einem Knallen, das ich unter all dem Lärm gar nicht bemerkt hätte, wäre Martin nicht an den Straßenrand gefahren und hätte die Karre ausrollen lassen.

„Keilriemen“, sagte er. Ich hatte nie mit alten Autos zu tun gehabt, aber dass das nicht gut klang, war auch mir schon klar, bevor uns der ADAC einen Ersatzwagen anbot und den Camper in die nächste Werkstatt schleppte.

„Er war gerade einen Monat in der Werkstatt“, sagte Martin und ich wusste nicht, ob er fassungslos oder ungläubig klang oder einfach nur resigniert. „Einen Monat. Warum haben die das nicht geprüft?“

Ich wusste es nicht und auch der Werkstattinhaber nicht, der uns frühestens Montag eine Reparatur anbieten konnte, die Ersatzteile fehlten ihm und Samstag nach dem Mittag lieferte niemand mehr.

Die Sonne brannte auf der Haut, während wir an der Landstraße entlang zur Autovermietung liefen. Es gab keinen Gehweg zwischen der Werkstatt und dem nächsten Ort.

Martin fuhr sich durch die Haare. „So viel zu unserem Urlaub.“


Ich wollte fragen, was wäre, wenn wir einfach trotzdem weiterführen. Wenn wir einfach den Mietwagen nahmen und an die Ostsee fuhren und auf die Fähre und immer weiter, bis die Probleme zu Hause kaum noch sichtbar waren. Mein Rucksack drückte schwer auf meinen Schultern und wir fuhren nicht ans Meer, sondern nur nach Hause. Zuhause auf dem Balkon saßen wir einfach da und schwiegen. Das Licht der Sonne schimmerte auf den Blättern der Pappeln vor dem Haus, in den Fenstern des Wohnblocks gegenüber, auf dem Lack der Autos, die unten auf der Straße entlangfuhren, und die Augusthitze dämpfte die Laute der Stadt zu einem Rauschen, das wie Wellen klang.



 

Anne K. Ramin wurde im April 1999 in einem kleinen Dorf in Brandenburg geboren und studierte Europäische Literatur in Berlin. Seit frühester Kindheit ist Schreiben ihre Leidenschaft und begleitet sie in allen Lebenslagen, egal ob privat oder beruflich. Sollte sie einmal nicht mit dem Schreiben beschäftigt sein, lebt sie als Sängerin und Gitarristin ihre Liebe zur Rockmusik aus.

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